Demand Avoidance und das PDA-Profil

Demand Avoidance (Deutsch: Anforderungsvermeidung) ist ein wichtiger Aspekt des PDA-Profils. Viele Menschen sind sich allerdings unsicher bei der Abgrenzung zwischen "natürlicher Demand Avoidance", "Autistic/ADHD Demand Avoidance" und "Pathological Demand Avoidance" (also PDA). In diesem Artikel möchte ich die Unterschiede etwas näher beleuchten. 

Was ist Demand Avoidance?

Demand Avoidance bedeutet laut der britischen PDA-Society (deren Homepage die Hauptquelle für diesen Artikel ist), bestimmte Dinge in einem bestimmten Moment nicht tun zu können. Grundsätzlich ist das ein ganz natürliches menschliches Verhalten, das wir alle bis zu einem bestimmten Ausmaß und aus unterschiedlichen Gründen einsetzen. Verstärkt wird die Anforderungsvermeidung oft in bestimmten (Lebens)Situationen, beispielsweise im Zusammenhang mit körperlicher oder mentaler Gesundheit (Verletzungen, Burnout) oder ist abhängig von der jeweiligen Entwicklung / Persönlichkeit einer Person. Demand Avoidance ist nicht automatisch gleichzusetzen mit "Pathological Demand Avoidance", denn für ein PDA-Profil sind noch weitere Aspekte relevant (zB. starker Drang nach Autonomie oder ein reaktives Nervensystem). 

 

"Demands" sind grundsätzlich alles, was mit Anforderungen an einen anderen Menschen oder sich selbst zu tun hat. Wenn man sich mal damit auseinandersetzt, dann wird einem bewusst, dass im Prinzip unserer ganzes Leben mit einer Vielzahl davon gespickt ist. Fragen, Bitten, Anleitungen, Hinweisschilder, Gesetze, soziale Regeln, Belohnungssysteme, Verantwortung, Speisekarten, Fahrpläne, Versprechen, Regeln, Wünsche, Rezepte, Anweisungen, Wahlmöglichkeiten, Listen, Nachfragen, Erwartungen - all das können Anforderungen sein.

Arten von "Demands"

Die offensichtlichste Art von Demands sind direkte Anforderungen, die meist mit Fragen oder Aussagen anderer Menschen zu tun haben. Beispiele dafür: "Zieh die Schuhe an!", "Kannst du die Rechnung einzahlen?", "Was möchtest du Frühstücken?", "Warte mal!", "Das darf man nicht". 

 

Weiters gibt es indirekte / innerliche Anforderungen, die nicht so klar ersichtlich sind, aber ebenso großen Druck machen können:

  • Entscheidungen: Zu viele Auswahlmöglichkeiten (zB. Speisekarte) können stressen / zur Paralyse führen.
  • Erwartungen: an sich selbst oder von anderen Menschen - und offensichtlich oder subtil
  • Annahmen: jemand glaubt zu wissen was die Person brauche, denke oder fühle - Kontrollverlust
  • Pläne: oft verstärkt sich die Nervensystem-Aktivierung, wenn der Zeitpunkt naht
  • Unsicherheit: spontane Aktionen führen zu Kontrollverlust
  • Übergänge: mit etwas aufhören müssen und dann nicht wissen, was danach kommt.
  • Lob: etwas beim nächsten Mal wieder genauso oder besser machen müssen.
  • Belohnung: riesiger Stress, weil ich die Belohung gerne hätte, es aber trotzdem nicht schaffe
  • Erinnerungen:  "Ich wollte es gerade machen, aber jetzt geht es nicht mehr."
  • innerliche Anforderungen: Hunger, Durst, Harndrang, Müdigkeit verlangen eine Aktion
  • Gefühle, Gedanken, Wünsche, Vorsätze
  • Sensorischer Overload
  • Anwesenheit / bestimmte Energie von anderen Menschen
  • Dinge, die wir tun wollen (Freunde treffen, Hobbies, besondere Anlässe)
  • Unangenehme / langweilige Dinge (Hausaufgaben, Haushalt, Körperhygiene)

Oft gibt es auch Anforderungen innerhalb anderer Anforderungen, zB. ein Kinobesuch ist eine Anforderung an sich, und zusätzliche Anforderungen sind still sitzen, leise sein, Nähe anderer Menschen, Geräusche.

 

Auch alltägliche Anforderungen sind ein großes Thema: Morgens aufstehen, Haare kämmen, Anziehen, Frühstücken, Zähne putzen, Mithilfe im Haushalt, Kochen, Einkaufen, Schule, Arbeit, Schlafen,..

 

Anforderungen werden von jedem Menschen unterschiedlich wahrgenommen - was den Einen stresst, ist für den Anderen vielleicht kein Problem. Außerdem können die Reaktionen auf  Anforderung völlig unterschiedlich sein. Wenn man sich die obige Liste anschaut, wird einem erst bewusst, wie bestimmt unser Leben davon ist und wie schwierig das für jemandem mit Demand Avoidance sein kann. 

Autistic / ADHD demand avoidance

Es ist nur allzu verständlich, dass Menschen mit ADHS oder autistischer Wahrnehmung bestimmte Situationen vermeiden, die sie überfordern oder triggern, sensorisch schwierig sind, ihre Routinen unterbrechen - oder einfach uninteressant, langweilig oder sinnlos für sie erscheinen. Folgen davon können Verweigerung, Rückzug, Shutdown oder Flucht sein. Um wachsen zu können, brauchen wir Herausforderungen, aber wenn diese nicht schaffbar sind, kann mehr Schaden als Nutzen angerichtet werden. Manchmal passen Erwartung und Kapazität einfach nicht zusammen. Dadurch entsteht einen Lücke und das daraus resultierende Verhalten hat wenig mit "absichtlich" oder "austesten wollen" zu tun.  

 

Mögliche Strategien bei Autistic/ADHD Demand Avoidance: 

  • Rücksichtnahme auf sensorische Herausforderungen, Sensorische Integration, Nervensystem regulieren
  • Unterstützung in neuen Situationen: rechtzeitiges Ankündigen von Veränderungen, vorhersehbare Routinen, soziale Geschichten
  •  Einschränkung der Exekutivfunktion anerkennen: Viele Aktivitäten erfordern eine ganze Reihe von Abläufen, die nicht jedes Kind automatisch erledigen kann. Hilfreich können Tages- und Ablaufpläne sein (ev. in Bildform), Dinge öfters erklären / vormachen, Arbeitsblätter übersichtlicher gestalten, ruhigere Umgebung
  • Spezialinteressen & Hyperfokus berücksichtigen und respektieren
  • Erwartungen so anpassen, dass sie für das Kind realistisch werden (kleine Herausforderungen, aber nur so viel wie alleine zumutbar, wenn nötig helfen, Erfolgserlebnisse ermöglichen)
  • Annehmen, dass manche Dinge einfach nicht machbar sind

Pathological Demand Avoidance (PDA)

Die Gründe für Anforderungsvermeidung im PDA-Profil können im Prinzip dieselben wie bei der Austistic/ADHD Demand Avoidance sein und schließen einander nicht aus, allerdings kommen hier noch weitere Aspekte und Besonderheiten hinzu. 

  • Vermeidung von alltäglichen Dingen, einfach weil sie Anforderungen / Erwartungen von anderen (oder sich selbst) sind. Das führt zu einem Kontrollverlust und dadurch steigt die Nervensystem-Aktivierung.
  • Die Vermeidung erscheint nach außen oft irrational (oft als überzogene und zu dramatische Reaktion auf eine scheinbar kleine Frage/Bitte).
  • Die Vermeidung kann sich je nach Zustand des Nervensystems und damit Kapazität für Anforderungen ändern - auch das Umfeld (Menschen, Orte, Aktivitäten) spielt hier eine große Rolle.
  • Das PDA-Profil ist ein Spektrum - es äußert sich in jedem Menschen unterschiedlich und kann unterschiedlich stark ausgeprägt sein.
  • Die Demand Avoidance kann externalisiert/aktiv sein (offensichtlich, körperlich, aggressiv, kontrollierend, gegen andere gerichtet) oder internalisiert/passiv (stiller Widerstand, innerliche Aktivierung, Masking & People Pleasing, gegen sich selbst gerichtet) - auch beides gleichzeitig ist möglich, oder eine Verschiebung je nach Alter, Umfeld oder eigenem Zustand. 
  • PDA ist nicht selbstgewählt, sondern lebenslang präsent, kann allerdings durch Wissen & Verständnis sowie die richtigen (Erziehungs)-Ansätze und Coping-Strategien gut in den Griff gebracht werden.

PDA wird derzeit offiziell als Profil des Autismus-Spektrums gesehen, es werden auch immer mehr Zusammenhänge mit ADHS gefunden. 

Abgrenzung Autistic/ADHS Demand Avoidance & PDA

In mancher Literatur wird die Abgrenzung folgendermaßen vorgenommen: Wenn die Anforderungsvermeidung rational ist (zB. aus sensorischen Gründen) dann ist es "normale" Demand Avoidance. Wenn die Anforderungsvermeidung irrational ist, dann handelt es sich um Pathological (krankhafte) Demand Avoidance. Für mich ist allerdings keine Art der Demand Avoidance irrational, denn die betroffene Person hat immer (wenn auch teils unbewusst) Gründe dafür. Beim PDA-Profil  ist es oft eine Schutzfunktion - siehe  dazu meinen Artikel PDA-Autismus & das Nervensystem. Außerdem können - wie oben bereits erwähnt, verschiedene Arten der Demand Avoidance gleichzeitig auftreten, was in meinen Augen auch bei den meisten Menschen der Fall ist. 

 

Mein Sohn beispielsweise zieht selbst bei niedrigen Temperaturen sehr ungern lange Hosen und geschlossene Schuhe an, was in der Vergangenheit oft zu großem Stress und Verweigerung geführt hat. Das liegt einerseits an sensorischen Gründen (ihm ist immer warm und lange Hosen und Schuhe engen ihn ein) und andererseits will er selbst bestimmen und entscheiden, was er anzieht (lange Hosen und Schuhen empfindet er nicht als notwendig, auch nicht wenn es gesellschaftlich erwartet wird und er doof angeschaut/angesprochen wird). Wenn man die hochsensible Körperwahrnehmung und das Bedürfnis nach Kontrolle und Autonomie sieht, dann macht sofort alles Sinn (hat aber auch bei uns  einige Zeit gedauert, bis wir das verstanden haben). Wenn sein Nervensystem entspannt ist (durch den langfristig passenden Umgang mit ihm), dann zieht mein Sohn in bestimmten Fällen doch eine lange Hose und Schuhe an - weil er Kontrollverluste besser ertragen kann UND er mir aufgrund meiner Haltung ihm gegenüber einen  Gefallen tun möchte (denn wenn ich empathisch seinen Bedürfnissen gegenüber bin, erhöht sich auch sein Verständnis meiner Bedürfnisse).  Zusätzlich kann sich durch die Regulierung des Nervensystems auch die Körperwahrnehmung verändern, plötzlich ist es nicht mehr ständig zu warm (was auf eine Überaktivität des Sympathikus hindeuten kann) und das Gefühl von Enge ist auch besser erträglich.

Was trifft in meinem Fall zu?

Es gibt mittlerweile zwei Fragebögen zu PDA, die allerdings kein Diagnosekriterium sind, sondern vielmehr zur Information und Selbsteinschätzung dienen. Seit 2021 wurde der ursprüngliche Fragebogen (EDA-Q, Extreme Demand Avoidance Questionnaire mit 26 Fragen) durch die neue Version (EDA-8 mit 8 Fragen) ersetzt um akkuratere Ergebnisse zu erzielen. Wenn hier eine bestimmte Anzahl an Punkten erreicht wird, ist es gut möglich, dass PDA im Spiel ist. PDA wird im deutschen Sprachraum bisher kaum diagnostiziert und selbst Fachpersonal weiß darüber oft kaum Bescheid. 

 

Für mich sind die wichtigsten Anzeichen des PDA-Profils die Kombination von zwei sehr gegensätzlichen Dingen. 

  1. Autonomiedrang (Ich möchte alleine über mein Leben bestimmen und die Welt um mich herum kontrollieren.)
  2. Ein hochsensibles bzw. sehr leicht aktiviertes Nervensystem (Ich brauche Schutz und Nähe von den wichtigsten Bezugsperson, die mir dabei helfen können, mich zu regulieren.)

Dass diese Polarität sowohl für Kinder als auch Eltern immens anstrengend ist, liegt auf der Hand. Die Anforderungsvermeidung ist nur eine natürliche Konsequenz davon, um Sicherheit und Stabilität zu gewährleisten. Ich bin der Meinung, dass PDA in Verbindung mit einem hochsensiblen Nervensystem entsteht, das wiederum durch offene Reizfilter und traumatische Erfahrungen gefördert wird. Dem Stress, der dadurch entsteht, wird mit Kontrolle begegnet, was wiederum dazu führt, dass Anforderungen vermieden werden. 

 

Ein gutes Indiz, um herauszufinden ob das PDA-Profil ein Thema ist: Die empfohlenen Strategien (PANDA, Low Demand Lifestyle, Low Arousal & Responsive Parenting) eine bestimmte Zeit lang auszuprobieren und dann zu evaluieren, ob daraus positive Veränderungen resultieren. Grundsätzlich geht es dabei darum, dem Kind möglichst viel Autonomie und Kontrolle zu geben, Anforderungen zu senken und das Nervensystem zu regulieren. Das kann extrem herausfordernd für Eltern sein, ist aber oft der einzige Weg, um das Kind vor Burnout & Trauma zu schützen und Stress & Chaos im Familienalltag zu reduzieren. Längerfristiges Ziel ist es, das Stresstoleranzfenster zu erhöhen, damit wieder mehr Koopoeration und ein gutes Leben innerhalb der Gesellschaft möglich ist (in einem Rahmen, der für das Kind passend ist). 

  

Hier gibts alle Infos zu unserem Change Maker Circle, unserer Plattform für PDA-Wissen & Community-Austausch!

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