PDA-Autismus & das Nervensystem

„Pathological" Demand Avoidance bezeichnet und beschreibt Menschen, die alltägliche & innere Anforderungen vermeiden, ein sehr hohes Autonomiebedürfnis haben und einen anderen Zugang als "klassische" Autisten brauchen. Das Nervensystem spielt dabei eine wichtige Rolle.

PDA-Autismus-Profil-Nervensystem

pda-Autismus neu definiert

Das Wort "pathological" wir von vielen Betroffenen als sehr defizit-orientiert empfunden. Im Laufe der Zeit haben sich weitere Definitionen entwickelt. Mir gefällt der von Mona Delahooke vorgeschlagene Begriff „Protective Demand Avoidance“ sehr gut, denn er erkennt an, dass die Anforderungsvermeidung eine sinnvolle Funktion hat, nämlich Selbstschutz  

 

PDA wird dem Austismus-Spektrum häuft ADHS, Höherbegabung und Trauma in Verbindung gebracht. Manche Menschen sehen PDA auch als eigene Neurodivergenz. Aber es gibt noch wenig Forschung dazu und daher kaum gesicherte Fakten. Im deutschen Sprachraum ist PDA-Autismus noch relativ unbekannt – selbst im professionellen Bereich (hier ist uns vor allem Großbritannien & Australien weit voraus). Dadurch werden Betroffene nicht ernst genommen bzw. wissen nicht, dass ihre Herausforderungen einen Namen haben und was mögliche Strategien dafür sind. Doch PDA ist für mich definitiv real. Wie viele andere Familien können auch wir uns damit identifizieren - und die für den Umgang damit empfohlenen Strategien (PANDA / Low Demand Parenting) funktionieren und haben deutliche Besserung gebracht.

 

Zum Glück berichten nun (vor allem in der Online-Welt) immer mehr Menschen von PDA-Autismus und der Fachverein PDA-Autismus-Profil ist entstanden. 

pda-Autismus - das fehlende puzzleteil

Ich habe im Sommer 2022 das erste Mal von PDA gehört und seitdem alles verschlungen, was ich darüber finden konnte (damals noch großteils in englischer Sprache). Vieles davon hat sich mit unseren Erfahrungen gedeckt und ein weiteres Puzzleteil in unser Leben gebracht. Das Wissen um PDA hat für uns ALLES verändert, denn plötzlich konnten wir unseren Sohn viel besser verstehen und unseren Alltag noch besser an seine Bedürfnisse anpassen. Mittlerweile wird es immer offensichtlicher, dass er nicht der einzige PDAer in unserer Familie ist. 

 

Von Anfang an tat ich mich mit der Pathologisierung von PDA schwer und das Verhalten von PDA-Kindern wird teils sehr dramatisch beschrieben. Es ist von Verweigerung, Manipulation und Wutanfällen die Rede, vom Ignorieren von Grenzen und Hierarchien. Von Kindern, die weitaus mehr Raum einnehmen, als ihnen zusteht und von Eltern, die offenbar keine Kontrolle über ihre Kinder haben. Hat unser Kind wirklich böswillige Absichten? Und sind wir tatsächlich so inkompetente Eltern?

 

Wir können mittlerweile ganz gut damit leben, missverstanden und belächelt zu werden, aber für unseren Sohn konnten und wollten wir das nicht akzeptieren. Denn wie so oft im Leben steht so viel mehr dahinter als auf den ersten Blick ersichtlich ist. Es geht um ein NICHT KÖNNEN anstatt eines NICHT WOLLENS. Es geht um ein HÖCHST SENSIBLES NERVENSYSTEM. Und es geht um Kinder (und Familien), denen zutiefst unrecht getan wird. 

Von Reizfiltern & Nervensystem-Aktivierung

Das menschliche Gehirn ist mit Reizfiltern ausgestattet, um uns vor den vielen Eindrücken, die ständig auf uns einprasseln, zu schützen. Bei neurodivergenten* Menschen sind diese Filter allerdings durchlässiger als bei anderen. Dadurch gelangen viel zu viele Informationen in unser Gehirn: Sensorische Eindrücke, Gefühle, Empfindung – die dann an unser vegetatives (autonomes) Nervensystem weitergegeben werden. Das autonome Nervensystem regelt alle Abläufe in unserem Körper, die nicht bewusst gesteuert werden – z.B. Atmung, Herzschlag & Stoffwechsel.

 

Auch der Sympathikus & Parasympathikus sind Teil davon und sorgen im Idealfall für eine gute Balance zwischen Aktivität/Anspannung und Ruhe/Entspannung. Durch die durchlässigen Reizfilter und die daraus oft resultierende Überforderung kann dieses Gleichgewicht sehr leicht aus der Balance kommen. Der Sympathikus übernimmt und der Körper steht ständig unter Strom – was sich oft im Verhalten und durch diverse Symptome zeigt. (Das Ganze ist noch etwas komplexer, doch dazu ein anderes Mal mehr.)

 

* Neurodivergent werden jene Menschen bezeichnet, die eine von der Norm abweichende Gehirnstruktur haben. Dazu gehören Autismus, ADHS, Hochsensibilität, Hochbegabung, Lese-Rechtschreib-Schwäche und vieles mehr. Es stellt sich allerdings die Frage, ob es diese Norm überhaupt gibt, denn im Prinzip ist JEDES Gehirn unterschiedlich.

was hat das jetzt mit PDA zu tun?

Wie schon oben erwähnt, es gibt zu PDA-Autismus noch viel zu wenig gesicherte Fakten. Folgendes macht für mich allerdings am meisten Sinn (nach intensiver Recherche und meiner persönlichen Erfahrungen und Empfindungen): 

 

Menschen mit PDA haben - wie viele andere neurodivergente Menschen - eine geringe Toleranz für Stress und Unsicherheit und daher ein sehr reaktives Nervensystem. Das kann offensichtlich und nach außen gerichtet sein (Meltdown, Weglaufen, Ignorieren) oder eher innerlich und subtil (Erstarrung, Ausklinken, Depression) und geschieht nach einer Aktivierung ganz automatisch. Um das ständig überforderte Nervensystem vor zu vielen äußeren Einflüssen zu schützen, beginnen jeden Menschen mit dem PDA-Profil nun (unbewusst), die Welt um sich zu kontrollieren, denn das bietet Sicherheit und Stabilität. Selbstbestimmtheit hilft PDAern also dabei, das innere Gleichgewicht wiederherzustellen. Je weniger Kontrolle über das eigene Leben ein Mensch hat UND je überladener sein Nervensystem ist, desto stärker kann dieses Bedürfnis nach Autonomie sein.

 

Kinder haben kaum Kontrolle über ihr Leben und vor allem solche mit offenen Reizfiltern leiden sehr in unserer überfordernden Welt. Das Vermeiden oder Verweigern von Anforderungen folgt als natürliche Konsequenz – je höher die Nervensystem-Aktivierung, desto intensiver. Oft geht es so weit, dass Kinder selbst Notwendigkeiten wie Essen, Schlafen oder Körperhygiene vermeiden, den Schulbesuch verweigern oder im Burnout landen. Sogar eigene Anforderungen an sich selbst und Dinge, die eigentlich gerne gemacht werden, können zum Problem werden. Das alles geschieht unbewusst und ungewollt - wird aber immer wieder als absichtliches Verhalten interpretiert und oft bestraft (was nur zu noch mehr Stress und Nervensystem-Aktivierung führt). 

Wie entsteht PDA-Autismus?

Grundsätzlich geht man aber davon aus, dass die Veranlagung zu PDA in den Genen liegt: Das schnell aktivierte Nervensystem, die Art des Umgangs damit (Kontrolle) und der Ausdruck (externalisiert oder internalisiert). Daher macht es durchaus Sinn, sich im Falle eines PDA-Autismus-Verdachts die gesamte Familie unter die Lupe zu nehmen - vielleicht wird dadurch erst die eigene Neurodivergenz entdeckt bzw. plötzlich verstanden, warum das Leben bisher oft so schwer war. 

 

Die Intensität und die Schwierigkeiten, die daraus entstehen, sind in meinen Augen allerdings noch von weiteren Faktoren abhängig:

Wie ist der Erziehungsstil – bekommt ein Kind viel Freiheit oder wird es stark kontrolliert?
Wie reguliert ist das Umfeld? Gibt es Menschen, die Co-Regulieren?

Wird das Kind vielen überfordernden Situationen ausgesetzt (die natürlich für jedes Kind anders aussehen können)?
Wurden traumatische Erfahrungen gemacht (Mutterleib, Geburt, Kindheit, Schule, Unfall)?
Blieb die Neurodivergenz lange unentdeckt?

Wie gut schafft es das Kind, seine Probleme zu maskieren (oft auf Kosten der eigenen Gesundheit)?
Auch die individuelle Persönlichkeit & Resilienz spielt hier natürlich eine Rolle. 

und was jetzt?

PDA ist nicht heilbar, denn es ist Teil der Persönlichkeitsstruktur eines Menschen. Man muss sich dafür auch nicht schämen, denn PDAer sind wunderbare Menschen mit vielen außergewöhnlichen Eigenschaften. Trotzdem hat man es in unserer Gesellschaft natürlich nicht leicht, wenn der Autonomiedrang so groß und das Nervensystem so sensibel ist. Oft steht man sich auch selbst im Weg. Im Umgang mit PDA geht es meiner Ansicht nach vor allem um zwei Dinge: 1) Das Nervensystem im möglichst regulierten Bereich zu halten (was schwierig sein kann, da die Strategien dafür auch als Anforderung wahrgenommen werden können). 2) Freiheit, Selbstbestimmtheit & Gleichwürdigkeit sowie das Fallenlassen möglichst vieler Anforderungen.

 

Um Kinder mit PDA-Autismus bestmöglich zu unterstützen, muss ein komplettes Umdenken stattfinden: In der Gesellschaft, im Bildungssystem und in der Erziehung. Es ist nötig, alte Denkmuster, Prägungen und Glaubenssätze zu hinterfragen und oft auch fallenzulassen. Für PDAer funktionieren unsere eingestaubten Erziehungsstrategien, die auf Hierarchien, Kontrolle, Belohnung & Strafe beruhen nicht - sondern machen alles noch viel schlimmer. Es ist kein leichter Weg, auf den man sich als Eltern eines PDA-Kindes begibt, aber am Ende definitiv lohnenswert - und man lernt dabei unheimlich viel über sich selbst. 

 

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